Die Katze und die Ratte (Fabel) |
Eine Ratte lebte unter einer hohen, mächtigen Fichte, deren Astwerk bis auf den Boden hinunter wucherte. Ganz in der Nähe hausten eine Eule, ein Wiesel und eine Katze und machten der Ratte das Leben sauer.
Obgleich die Ratte von soviel Feinden umgeben war, konnte sie sich nicht entschließen, ihre Wohnung zu verlassen; denn die alte Fichte ernährte sie ausreichend mit ihrem Samen, der im Frühjahr auf den Boden prasselte. Auch warf der Sturm oft reife Zapfen zu ihr herab, die sich noch nicht geöffnet hatten, und die emsige Ratte schleppte diese dann hochbeglückt in ihr Nest und sammelte so reichlich Vorrat für das ganze Jahr. Eines Morgens hörte die Ratte ein herzzerreißendes Miauen. Sie lächelte schadenfroh: „Einem meiner Plagegeister scheint es an den Kragen zu gehen.“ Das Miauen wurde immer jämmerlicher, und die Ratte blinzelte neugierig aus ihrem Loch. Aber sie konnte nichts sehen. Vorsichtig tapste sie in die Richtung, aus der das Klagen kam. Da entdeckte sie die Katze, die sie schon so oft in Angst und Schrecken versetzt hatte. Sie war in eine Falle geraten. „Das geschieht dir recht!“ rief die Ratte ihrer Feindin zu. Die Katze aber schlug ihre sanftesten Schmeicheltöne an und schnurrten „Liebe Freundin, deine Güte und Liebenswürdigkeit ist überall bekannt. Ich habe dich vor allen anderen Tieren dieser Gegend verehrt und geliebt. Jetzt, da ich dich sehe, muss ich sagen, es reut mich keinen Augenblick, daß ich dich stets behütet und beschützt habe. Nun kannst du mir dafür deinen Dank erweisen und mir aus diesem teuflischen Netz heraushelfen. Irgendein Taugenichts muss hier gestern dieses Netz ausgelegt haben.“ „Ich dich retten?“ fragte die Ratte belustigt, die keineswegs von den süßlichen Worten ihrer Todfeindin beeindruckt war. „Was bietest du mir denn zur Belohnung an?“ /p> „Meine ewige Treue und unbedingte Hilfe gegen alle deine Feinde“, antwortete die Katze. Die Ratte entgegnete: „Gegen alle anderen Feinde, das mag wohl sein, aber wer schützt mich vor dir?“ – „Ich schwöre es dir bei meinen scharfen Krallen“, beteuerte die Katze. Die Ratte wollte spottend in ihr Loch zurückkehren, da versperrte ihr das kurzschwänzige Wiesel den Weg und funkelte sie wild an. Gleich darauf rauschte fast lautlos der Waldkauz herbei. In ihrer Bedrängnis überlegte die Ratte keinen Moment, sondern flitzte zur Katze und zerbiss eilig das Netz. Das Wiesel lief herausfordernd auf die Katze zu, um ihr die Beute abzujagen. Flugs sprang die Ratte hinter ihre neuverbündete Freundin. Doch sofort streckte der Waldkauz seine Krallen nach der Ratte aus. Da drang ein wütendes Bellen zu den Streitenden herüber. Wiesel, Waldkauz, Katze und Ratte flohen in verschiedene Richtungen. Ein Jäger war mit seinen Hunden unterwegs, um die Fallen, die er aufgestellt hatte, zu kontrollieren. Einige Tage später lugte die Ratte aus ihrem Loch, um zu erkunden, ob der Weg frei sei, da spritzte die Katze auf sie zu. Schnell fuhr die Ratte zurück. „Warum fliehst du vor mir, liebe Freundin, als wäre ich dein Feind?“ fragte die Katze scheinheilig. „Ich verdanke dir doch mein Leben und bin dein bester Freund. Komm, lass dich zum Dank für deine Hilfe küssen.“ „Ich pfeif‘ auf deinen Dank, du falsche Heuchlerin. Glaubst du, ich wüßte nicht, dass ich nur dem Hund mein Leben verdanke, der euch alle in die Flucht schlug? Du kannst deine Natur nicht verleugnen, auch nicht mit einem noch so heiligen Freundschaftseid, zu dem dich allein die Not gezwungen hat. Du bist und bleibst eine mörderische Katze.“ Und mit diesen Worten zog sich die Ratte tief in ihr Loch zurück. von Jean de La Fontaine (1621-1695) |