Der Kater und die alte Ratte (Fabel) |
Ein Mäusevölkchen hatte sich in einer Mühle angesiedelt und führte ein vergnügtes Leben. Gleich neben der Mühle hinter dem Wasserrad hausten ein paar Ratten, die hin und wieder in der Mühle auftauchten, um einige Körner zu stibitzen.
Eines Tages mietete sich ungebeten ein wilder Kater bei dem grauen Trippelvölkchen ein und wütete so mörderisch unter diesem, dass sich bald keine einzige Maus und Ratte mehr aus ihrem Loch heraustraute. Da griff der böse Jäger zu einer List. Er band sich ein Seil um seine eine Hinterpfote und krallte sich mit dieser an einem Sack, der an der Wand hing, fest. So baumelte er mit dem Kopf nach unten und stellte sich tot. Alle Mäuse glaubten, dass der Müller den Bösewicht beim Stehlen von Käse und Fleisch ertappt und zur Strafe aufgehängt hatte. Erfreut schossen sie aus ihren kleinen Verstecken hervor und fielen ausgehungert über das frische Korn her. Auf einmal löste der Kater seine Krallen aus dem Sack und stürzte sich auf die ahnungslosen kleinen Fresser. Nur wenige von ihnen konnten sich rechtzeitig in ihre Schlupflöcher retten. „Auch euch erwische ich noch!“ zischte er grimmig. Die Mäuse und Ratten, die den hinterhältigen Überfall überlebt hatten, waren vorsichtiger geworden, und der Kater lauerte vergeblich auf seine Beute. Eines Abends war der fürchterliche Räuber verschwunden. Er tauchte auch am folgenden Tag nicht wieder auf. Dafür lag am Morgen darauf mitten in der Mühle ein dicker Mehlsack. Das Mehl war herausgerieselt, und ein hoher weißer Haufen breitete sich vor dem Sack aus. Die Mäuse und Ratten schoben zaghaft ihre Nasen aus den Gängen hervor, schnupperten neugierig und zogen sich dann wieder ängstlich zurück. Doch schließlich waren sie davon überzeugt, dass der schreckliche Kater endlich ihr Reich wieder verlassen hatte. Sie wurden mutiger und trippelten vorsichtig auf den großen weißen Haufen zu. Eine alte, erfahrene Ratte warnte sie: „Geht nicht dorthin. Seit wann streut der Müller euch freiwillig sein Mehl vor die Nase? Hinter diesem Mehlhügel steckt gewiss irgendeine List.“ Die anderen aber entgegneten ihr: „Niemand hat den Kater seit zwei Nächten mehr gesehen. Bestimmt hat er den hoffnungslosen Kampf mit uns aufgegeben und ist ausgewandert. Wir sind ihm zu klug geworden.“ Und sie tanzten auf dem Mehlhaufen herum. Im selben Augenblick bewegte sich der weiße Berg, und der Kater sprang mit einem Ruck auf. Das Mehl sprühte nur so aus seinem Fell. Er war, um seine Opfer zu täuschen, fortgegangen, hatte sich dann am Morgen heimlich im Bach gewaschen und war lautlos in die Mühle zurückgeschlichen. Dort hatte er einen Mehlsack umgerissen und sich gründlich im Mehl gewälzt. Die alte, schlaue Ratte, die dem Frieden nicht trauen wollte, war als einzige diesem tückischen Anschlag entkommen. Sie rief dem Kater zu: „Selbst wenn ich wüßte, dass du tot bist, würde ich mich nicht in deine Nähe wagen.“ von Jean de La Fontaine (1621-1695) |